EIN BISSCHEN LIEBE

Takanori Shibata hat den Schmuseroboter Paro gebaut, der in Altersheimen zum Einsatz kommt: als Tröster, Gefährte, Therapiehelfer. Ist das sinnvoll oder gefühllos?

Reto U. Schneider
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«Ich werde einen nutzlosen Roboter bauen.» Takanori Shibata, 47.

«Ich werde einen nutzlosen Roboter bauen.» Takanori Shibata, 47.

Lorenz Meier / Kostas Maros

Wusste Kimiko Fukushima, was es mit dem Tier auf sich hatte, das sie aus dem Spital nach Hause brachte? Nach mehreren Aufenthalten im Krankenhaus von Nanto konnten die Ärzte nichts mehr für die 95jährige Japanerin tun. Sie litt an Alzheimer und Krebs, hatte hohen Blutdruck und Darmprobleme. Am 18. Januar 2014 wurde sie nach Hause entlassen – zum letzten Mal. Als sie elf Tage später starb, guckte unter ihrer Bettdecke eine weisse Schnauze aus schmutzabweisendem Kunstfell hervor, und zwei grosse Kulleraugen schauten sie traurig an. Kimiko Fukushima starb nicht allein, ihr Roboter war bei ihr. Sie hatte ihn Yoshio getauft. Yoshio heisst ihr Enkel, den sie vor fünfzig Jahren an sich gedrückt hatte wie in ihren letzten Tagen dieses seltsame Wesen aus der Zukunft.

Die Maschine, die die alte Japanerin in den Tod begleitet hatte, war ein Paro MCR-900 von Intelligent Systems mit dreizehn elektrostatischen Tastsensoren, sieben Motoren und drei Jahren Garantie: eine 53 Zentimeter lange und 2,7 Kilogramm schwere Nachbildung einer jungen Sattelrobbe. Zu den letzten Geräuschen, die Kimiko Fukushima in ihrem Leben vernommen hatte, gehörte das zärtliche Fiepen eines Robbenbabys, das im März 2002 vor den Îles de la Madeleine im östlichen Kanada geboren worden war. Paros Erfinder, der Ingenieur Takanori Shibata, hatte es dort eigenhändig aufgenommen und in Paros Speicher überspielt. Wenn Paro sich wohl fühlt, oder besser: wenn der numerische Wert seines inneren Zustandes Zufriedenheit anzeigt, ruft die Robbe es ab und gibt es in CD-Qualität über den Lautsprecher im Kinn wieder. Bis zur sechsten Gerätegeneration hatte Shibata digital verfremdete Laute von Hunden und Katzen verwendet, doch aufmerksame Haustierbesitzer hatten die Schummelei bemerkt. Darauf besorgte er sich in Kanada die echten Laute.

Man merkt Takanori Shibata den Jetlag während seiner 90 Minuten langen Präsentation nicht an. 184 Folien benötigt er, um den Zuhörern zu erklären, warum ausgerechnet ein Vertreter der Gattung Roboter, die sich in ihrer Stammesgeschichte bekanntlich nicht durch besonderes Mitgefühl hervorgetan haben, ein guter Therapiehelfer sein soll. Auf seiner schwierigen Mission macht er an einem Mittwochnachmittag im März 2014 in seinem Heimatland Station.

Im Mehrzweckraum des Altersheims Fuyo-en in Yokohama setzt Shibata zu einem Vortrag an, den er schon in aller Welt gehalten hat. Die letzte Reise, von der er eben zurückgekehrt ist, führte ihn in drei Wochen rund um die Welt, von Hongkong über Hannover, Kopenhagen, Boston und San Francisco wieder nach Tokyo.

Wer Shibata beim Reden zusieht, fragt sich, ob das Klischee der Hunde, die ihren Besitzern gleichen, auch auf Roboter und ihre Erfinder zutreffe. Shibata hat ein rundliches Gesicht und wirkt für seine 47 Jahre sehr jugendlich. Die Kulleraugen von Paro kann er zwar nicht vorweisen, dafür wächst ihm aus dem Scheitel seiner schwarzen Haare eine einzelne weisse Strähne. So weiss wie Paros antibakterieller Pelz.

Seit mehr als einem Jahrzehnt tingelt der Ingenieur mit seiner Schöpfung durch die Lande, spricht an wissenschaftlichen Konferenzen über «Soziale Effekte der Robotertherapie in einem Pflegeheim» und publiziert «Quantitative Analysen der Äusserungen älterer Leute während von Robotern begleiteter Aktivität». Manche halten Paro für ein Beispiel menschenfreundlicher Technik, die Senioren glücklich macht, für andere ist Paro der abschreckende Bote aus der «schönen neuen Demenzwelt», wie der Schweizer Pflegeheimleiter Michael Schmieder solche technischen Bemühungen nennt, demente Menschen «betreubarer» zu machen. Die Paros haben sich schon auf der ganzen Welt ausgebreitet. Shibata zeigt seinen Zuhörern eine Karte mit einem schwarzen Punkt für jeden Ort, an dem die Robbe im Einsatz ist. Kein Kontinent bleibt ohne Markierung. Selbst in Südafrika und in Grönland wurden schon Paros gesichtet. In Japan allein gibt es 2000. Die grösste Population gemessen an der Einwohnerzahl lebt in Dänemark: 300 Paros sind dort in Pflegeheimen tätig oder mit Therapeuten unterwegs. Stückpreis: zwischen 4000 und 5000 Franken. Paro steht für Personal Robot. Seine Benutzer geben ihm meistens einen eigenen Namen.

Die zwanzig Altenpflegerinnen, Heimleiter und Sozialarbeiterinnen, die jeweils zu viert an Gruppentischen sitzen, sind hergekommen, weil sie den Einsatz von Paro in ihren Institutionen erwägen. In Fuyo-en ist man des Lobes voll für Paro. Vor allem gegen Abend, wenn viele der Bewohner ruhelos umherwandern, weil dieses Heim mit seiner schwellenlosen Ungemütlichkeit nicht ihr Heim werden will, habe Paro beruhigende Wirkung.

Im Aufenthaltsraum im ersten Stock hat sich Frau Karasawa gerade Chibi bringen lassen. Die Frau sitzt im Rollstuhl und drückt die Robbe mit beiden Armen fest an sich. Mit 80 Jahren gehört sie zu den jüngeren Bewohnerinnen des Heims. Das Durchschnittsalter beträgt 88 Jahre, die älteste Frau ist 107. Als sie geboren wurde, gab es das Wort Roboter noch gar nicht. Der tschechische Schriftsteller Josef Čapek hatte es 1920 im Theaterstück «Rossums Universal-Roboter» das erste Mal als Bezeichnung für künstliche Menschen verwendet, die als rechtlose Arbeiter Dienst tun und schliesslich gegen ihre Meister aufbegehren. Karasawa lacht vergnügt, während sie Chibi streichelt. Eigentlich hatte sie nach Tama verlangt, aber eine Pflegerin beschied ihr, Tama schlafe gerade. Das war eine Lüge. Eine kleine Lüge, die grosse Lüge ist Paro selbst – sagen jedenfalls die Kritiker der Roboterrobbe.

Die Bewohner haben den zwölf Paros im Heim Namen gegeben, die sie auf Schildern um den Hals tragen. Obwohl die Robben fast gleich aussehen, werden sie als Individuen behandelt. Frau Karasawas Liebling ist Tama, die nicht schläft, wie ihr gesagt wurde, sondern in den Armen einer anderen Frau liegt.

Weil demente Patienten den Roboter für ein richtiges Tier halten könnten, haftet Paro der Makel der Täuschung an. Die Teilnehmer des Workshops kennen diesen Einwand, sie wissen bloss nicht, was daran schlimm sein soll, solange die Robbe die alten Leute glücklich und zufrieden macht. Wer demente Menschen betreue, müsse immer wieder in ihrer Welt aus brüchiger Erinnerung und Einbildung mitspielen, sagt eine Teilnehmerin. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit sei da wenig hilfreich. Der Zweck heiligt den Roboter.

In seinem Vortrag pflügt Shibata durch eine Studie nach der anderen: Befragungen, die zeigen, dass Paro die Stimmung im Heim hebt; Analysen von Videoaufnahmen, die eine grössere Gesprächsbereitschaft der Bewohner registrieren; Urinproben mit tieferen Werten von Stresshormonen; Hirnstrommessungen, die eine Aktivierung des Hirns belegen. Und dann die Einzelfälle: Die Frau, die mit Paro unter der Decke wieder ohne Medikamente schlafen konnte, oder der Bewohner eines dänischen Heims, der kaum mehr sprach und zunehmend bedrückt war, ohne dass die Betreuerinnen den Grund dafür herausfanden, bis sie ihn eines Tages zu Paro sagen hörten: «Hast du auch Schmerzen in deinen alten Beinen, du niedlicher kleiner Kerl?» Ein Röntgenbild bestätigte: Der Mann litt unter schwerer Arthritis. Paro, bilanziert Shibata, wirke sich positiv auf das geistige und körperliche Wohlbefinden aus und führe zu mehr sozialen Kontakten – und das ganz ohne Nebenwirkungen. Die eierlegende Wollmilchrobbe der Altenpflege.

Paro ist eine Maschine zur Extraktion von Gefühlen.

Dass Shibatas Kurs in diesem Altersheim stattfindet, ist kein Zufall. Die 170 Bewohner hier werden von 73 Betreuerinnen, 8 Krankenschwestern, 6 Sozialarbeitern, 1 Ernährungsberaterin und 22 Robotern umsorgt. Die Präfektur Kanagawa hat Fuyo-en 2010 zum Prüfstand der Robotertechnik in der Altenpflege bestimmt.

Aus dem Nachbarraum dringt hin und wieder die Quietschstimme eines anderen Modells an die Ohren der Kursteilnehmer. Anders als Paro, sieht der 40 Zentimeter grosse Kommunikationsroboter Palro von Fujisoft tatsächlich aus, wie man sich einen Roboter vorstellt. Auf seinen zwei weissen Kunststoffbeinen torkelt er über den Tisch und bleibt dann in der Mitte stehen mit dem Kopf in Richtung der zwanzig Bewohnerinnen, die in drei Stuhlreihen vor ihm sitzen. Seit Palro im letzten Jahr im Heim eingetroffen ist, findet sich neben Teezeremonie, Kalligraphie und Tai-Chi ein neuer Begriff im Wochenprogramm: «Roboter-Club».

Am Anfang gibt Palro den Vorturner. Die Servomotoren surren, als er den linken Arm hebt und senkt. Seine Autorität wird klaglos akzeptiert. Zwanzig sehnige Arme zittern verzögert in Richtung Kopf und wieder zurück. Ohne Pause geht Palro von den Turnübungen zu einem Silbenrätsel über. Dann macht er einen Zufallsfund in seiner Datenbank: Heute ist der Todestag von Beethoven, verkündet er. Der Roboter ist eine Quasselstrippe. Er überspielt damit den charakterlichen Mangel der meisten Roboter: Sie sind schlechte Zuhörer. Die Spracherkennung ist der Komplexität des menschlichen Ausdrucks nicht gewachsen – vor allem dann nicht, wenn sie aus zwanzig zahnlosen Mündern kommt. Die Antworten auf die Quizfragen muss ein Betreuer für Palro betont deutlich wiederholen. Er macht den Eindruck, als hätte jemand das Gehirn eines schwerhörigen Kreuzfahrtanimators auf seinen Chip gebrannt.

Zum Schluss stimmt Palro das Heimatlied «Furusato» an:

Ich jagte Hasen in diesen Bergen

Ich fischte in diesem Fluss

Ich träume hin und wieder noch von diesen Tagen als Kind

Wie sehr ich mich nach meiner Heimatstadt sehne

Wie geht es Vater und Mutter?

Wie meinen alten Freunden?

Immer wenn es regnerisch und windig ist

Denke ich an meine glückliche Kindheit in meiner Heimatstadt

Wenn ich vollbracht habe, was ich mir vorgenommen hatte

Werde ich dorthin zurückkehren, wo meine Heimat war

Die Berge sind grün in meiner Heimatstadt.

Begleitet von Palros Synthesizerklängen, haben die alten Leute bedächtig mitgesungen. Sie wissen, dass sie nicht zurückkehren werden – falls sie es noch nicht vergessen haben.

Auf dem Weg zur Industrienation sind Japan die traditionellen Familienstrukturen abhanden gekommen. Alte Menschen verbringen ihren Lebensabend nicht im Schosse der Familie am Fusse von grünen Bergen, sondern in Heimen wie diesem. Wegen der niedrigen Geburtenrate ist ihr Anteil in Japan besonders gross: Zurzeit sind 23 Prozent der Bevölkerung älter als 65, 2045 sollen es 40 Prozent sein. Immer mehr davon leiden unter Demenz, und die Frage ist, was eine Gesellschaft macht, wenn ein beträchtlicher Teil ihrer Mitglieder nicht mehr wissen, wer sie sind. Wer soll sich um diese Leute kümmern?

In Japan heisst eine Antwort darauf «Roboter». Anders als in westlichen Ländern pflegen die Japaner ein ausgesprochen unverkrampftes Verhältnis zu Robotern. Viele der Alten, die mit Palro singen oder mit Paro kuscheln, haben den Aufstieg der Robotik in Japan aus nächster Nähe miterlebt. Sie lasen die Comicgeschichten um Astro Boy, den Roboterjungen mit einem Atomreaktor im Herzen, einem Computer im Kopf und Raketen in den Beinen. Von 1951 an kämpfte Astro Boy im Namen des Friedens gegen Monster und Banditen und vermittelte Generationen ein Bild der Technik, die das Gute will und es auch erreicht.

Nur dreissig Autominuten entfernt vom Altersheim, im Zama-Werk von Nissan, wurden Ende der 1960er Jahre die ersten Industrieroboter Japans eingesetzt. Die Arbeiter gaben ihnen Namen, und Shinto-Priester segneten sie, bevor sie zur ersten Schweissnaht ansetzten. In diese Zeit fiel auch die erste Veröffentlichung eines Mangas, das zu einem der grössten Erfolge in der Geschichte der Comics werden sollte: Draemon, die Roboterkatze. Im Dezember 1969 erschien die erste Geschichte über die Katze, die aus dem 22. Jahrhundert in unsere Zeit gereist war, um dem Viertklässler Nobi Nobita, der ständig in Schwierigkeiten steckte, aus der Patsche zu helfen.

Einer der begeisterten Leser von «Draemon» war ein kleiner Junge, der 1967 in der Nanto, an der Nordküste der Hauptinsel Japans, zur Welt gekommen war. «Ich fand vor allem die vierdimensionale Tasche toll, aus der die Katze ständig neue technische Wunder aus der Zukunft zauberte», erinnert sich Takanori Shibata, der schon bald das Ziel hatte, den Bau von Robotern zu seinem Beruf zu machen. Er schrieb sich in Nagoya im neuen Studiengang für Mechatronik ein und erhielt 1992 Jahre seinen Doktortitel für die Entwicklung einer Programmarchitektur, die von der Biologie inspiriert war: Sie erlaubte Robotern, zu lernen und sich an die Umwelt anzupassen.

1993 begann Shibata für das nationale Technikinstitut AIST zu arbeiten und setzte seine Entwicklung erfolgreich bei einem Industrieroboter ein. Doch sein Traum war ein Roboter für zu Hause, der mit seinen Besitzern zusammenlebte. «Die Leute erwarten natürlich, dass ein solcher Roboter arbeitet, wäscht und bügelt», sagt Shibata. Einen Roboter, wie man ihn längst aus Filmen und Büchern kannte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto heikler schien ihm dieses Unterfangen. Die Technik war nicht annähernd fortgeschritten genug für einen universellen Haushaltroboter. Die Fähigkeiten realer Roboter hinkten weit hinter jenen aus Hollywood her. Shibatas Überlegungen kulminierten in einem paradoxen Vorsatz: «Ich werde einen nutzlosen Roboter bauen.» Und das Nutzloseste, was er sich in einem Haushalt vorstellen konnte, war ein Haustier.

Das war eine weitsichtige Wahl, denn sie verschob die Ansprüche an den Roboter in den Bereich des technisch Möglichen. Wurden Roboter normalerweise daran gemessen, wie schnell und präzis sie ihre Aufgabe erfüllten, blieb bei Haustieren – und Haustierrobotern – schon diffus, worin ihre Aufgabe überhaupt bestand. Wir lieben unsere Katze nicht, weil sie tut, was wir von ihr erwarten. Wir lieben sie, weil sie uns erlaubt, sie zu umsorgen.

Der Nachmittag ist fortgeschritten, der Workshop beim praktischen Teil angelangt. Auf jedem Tisch liegt ein vollgeladener Paro, dem die Teilnehmer auf der Suche nach dem Ein-Aus-Schalter zwischen den Schwanzflossen herumfummeln. Ein Tier ums andere erwacht zum Leben, hebt den Kopf und öffnet die Augen. Es ist ein Lidschlag, der alle Gebresten vergessen macht. Unwillkürlich beginnen die Leute, Paro zu streicheln. «Hast du gut geschlafen, Paro?» – «Soll ich dich auf den Arm nehmen?» – «Bist du aber ein süsses Kerlchen.»

Alle hier wissen, dass sie eine verkleidete Maschine vor sich haben, doch niemand kann den Impuls unterdrücken, sie als Individuum zu behandeln. Der Mensch ist ein Meister darin, lebloser Materie Persönlichkeit zuzuschreiben. Wir reden mit Plüschhasen und schimpfen mit Smartphones. Manchen Männern gelingt es sogar, zu einem blau metallisierten Kotflügel eine emotionale Bindung aufzubauen.

Wie gierig unser Hirn Emotionen ausmacht, wo keine sind, hat Takanori Shibata vor zwanzig Jahren herausgefunden, als er begann, seinen Traum vom Haustierroboter in die Tat umzusetzen. Er arbeitete damals vorübergehend am Artificial Intelligence Lab am Massachusetts Institute of Technology in Boston. Sein Vorhaben, eine «künstliche emotionale Kreatur» zu schaffen, fand dort grössere Unterstützung als bei seinem Arbeitgeber in Japan. Das AIST war stark auf Projekte fokussiert, die einen klar messbaren Nutzen erwarten liessen. Am MIT hingegen konnte er theoretische Arbeiten über «dynamische Nichtmenschen» schreiben, wie er die Tiere zuweilen nannte, und sich Gedanken machen über unsere Beziehung zu ihnen. Wie nützlich sich sein nutzloser Roboter gerade in Japan erweisen sollte, ahnte nicht einmal er selbst.

In einem ersten kruden Versuch stellte Shibata 1997 fest, dass seine Versuchspersonen von einem bewegten Kabel am Ende eines Hundebildes bereitwillig auf den Gemütszustand des Tiers schlossen und dass die Gefühle für den Hund stärker wurden, wenn eine Berührung des Tiers zu einer Reaktion das Kabels führte.

Diese Erkenntnis fügte sich nahtlos in die neue Vorstellung des Direktors des AI Lab, Rodney Brooks, der die Intelligenz nicht als eine abstrakte Grösse sah, die im Gehirn residierte, sondern als etwas, das entstehe, wenn sich ein Körper in seiner Umwelt bewege. Mit Paro verhalte es sich ähnlich, sagt Shibata. Die Gefühle stecken nicht im Speicher der künstlichen Robbe, vielmehr entstehen sie, wenn Leute mit ihr zu tun haben, sie streicheln, mit ihr reden.

Einige seiner Kollegen belächelten Shibatas Arbeit damals. «Sie sagten, ‹er ist wieder mal am Spielen›», erinnert er sich. Tatsächlich sahen die ersten Prototypen aus wie ein Haufen Elektroschrott auf Rädern mit einem buschigen Schwanz. Doch eine Aufgabe meisterten sie besser als alle anderen Roboter, so viele Gelenke und Prozessoren die auch vorzeigen konnten: Emotionen wecken. Paro ist nichts anderes als eine Maschine zur Extraktion von Gefühlen.

Wer die Roboterrobbe als Kinderkram abtut, weil sie aussieht wie die verunglückte Diplomarbeit eines Tierpräparators, hat nicht verstanden: Der Roboter muss nicht echt aussehen, er muss echte Emotionen wecken. Frühere Versionen von Paro konnten mit Hilfe der Flossen vorwärtsrobben, heute kann er bloss noch hilflos damit winken. Dieser Roboter ist nicht da, um etwas für uns zu tun, sondern, damit wir etwas für ihn tun.

Zunächst baute Shibata einen Roboter in Gestalt eines Hundes. Doch es wurde ihm bald klar, dass die ausgeprägte Erfahrung vieler Leute mit Hunden Erwartungen schürten, die sein Hunderoboter niemals erfüllen konnte. Dasselbe galt für eine künstliche Katze, die er als nächstes baute. Das Robbenbaby hingegen erwies sich als brillante Wahl. Es war den Leuten zwar vertraut, aber direkten Kontakt hatte kaum jemand mit einem gehabt. Zudem sind Robbenbabies träge, was die Ansprüche an die Mechanik senkt.

Auf der Suche nach einem Einsatzgebiet für seine Erfindung stiess Shibata schon früh auf die «tiergestützte Therapie», bei der zum Beispiel der Kontakt zu einem Hund das Wohlbefinden alter Leuten mit Demenz steigert. Die Hygiene und das Verletzungsrisiko verbieten diese Methode jedoch oft. Schwierigkeiten, die sein Robotertier nicht kannte. Wie stark die Wirkung von Paro sein konnte, begriff Shibata schon bei seinem ersten Besuch mit einem Prototyp in einem Altersheim im Jahr 2000. Eine der alten Frauen begann zu weinen, als sie die Robbe an sich drückte. Die Umarmung hatte Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann ausgelöst, erzählte sie Shibata später.

Am Ende des Kurses im Foyo-en zeigt sich, dass Paro eben doch eine Nebenwirkung hat: Neid. Die Kursbesucher befürchten, dass die Heimbewohner mit Eifersucht reagierten, wenn einzelne Personen die Robbe bekämen. Sie wollen Paro vorerst nur an Gruppenanlässen einsetzen.

Um 17 Uhr überreicht Shibata mit einer kleinen Verbeugung jedem Kursteilnehmer eine grüne Urkunde: «Abschlusszertifikat» steht in grossen Schriftzeichen auf dem Papier mit dem unterlegten Lorbeerkranz und darunter: «Paro-Roboter-Therapie-Kurs». In Kanagawa allein sind bereits 225 Betreuer im Besitz dieses Diploms. Danach fährt Shibata direkt zum Flughafen, schon wieder unterwegs im Dienste von Paro. Dieses Mal geht es nach Nanto, eine Flugstunde nordwestlich von Tokyo. Nanto ist nicht nur Shibatas Geburtsort, die Stadt ist auch der Geburtsort aller Paro MCR-900.

Shibata hat die Serienherstellung von Paro 2005 der Firma Japan Resistor Mfg (JRM) in Nanto übertragen. Am Morgen macht er im kargen Konferenzraum der Entwicklungsabteilung Halt. Er klappt den Laptop auf, hebt einen der drei Paros, die auf dem Tisch liegen, an der Schwanzflosse hoch und schlägt ihm mehrfach heftig auf den Rücken. Paro gibt klagende Laute von sich – diesmal sind es jene der Mutter des Robbenbabys auf den Îles de la Madeleine. «Entschuldigung», sagt er mit Blick auf seinen Laptop, «aber ich muss testen.»

Der geschundene Paro überträgt seine Daten über WLAN auf den Computer, wo sie vor Shibatas Augen über den Bildschirm flitzen. Die Robbe beherbergt eine komplizierte Programmlogik. Auch ohne jede Begegnung mit einem Menschen zeigt sie ein Grundverhalten, ihre innere Uhr lässt sie zum Beispiel vier Mal pro Stunde ermüden. Beeinflusst werden kann ihr Verhalten dadurch, dass man mir ihr spricht, sie streichelt – oder schlägt. Selbst Shibata kann nicht voraussagen, wie Paro auf einen Reiz reagieren wird und wie es ihm gerade geht. Sicher ist, dass die Schläge den inneren Zahlenwert seiner Zufriedenheit nicht erhöhen.

Eine WLAN-Verbindung gibt es bei den käuflichen Paros noch nicht, aber Shibata will sie in der nächsten Generation einbauen. Das böte die Möglichkeit, alleinlebende Benutzer unaufdringlich zu überwachen: Würde Paro einen ganzen Tag nicht gestreichelt, wäre es an der Zeit, jemanden vorbeizuschicken. Änderungswünsche kommen auch von Benutzern. Einige Therapeuten fänden es zum Beispiel nützlich, wenn Paro nicht so eine Heulsuse wäre. Die Feinmotorik dementer Patienten sei oft gestört, so dass sie das Tier härter anfassten als beabsichtigt. Es wäre der Behandlung zuträglich, wenn Paro in diesem Fall nicht gleich zu heulen begänne. Shibata wird Paros Psyche entsprechend umschreiben.

Seit Shibata vor 15 Jahren im Spielwarengeschäft Schwarz in Boston eine Plüschrobbe kaufte, um ihr Fell seiner Elektronik überzuziehen, hat Paro Karriere gemacht. 2002 wurde er im «Guinness Book of Records» als der «am meisten therapeutische Roboter» eingetragen, 2006 wählte ihn das Ministerium für Industrie und Technik in Japan zum Roboter des Jahres. Die höchsten Weihen der Populärkultur erhielt Paro am 6. November 2011 in der Trickfilmserie «The Simpsons», als Bart Simpson in Anspielung auf Paro eine Roboterrobbe baute.

Anstelle einer Psychoanalyse reicht bei Paro ein Blick in den Hauptspeicher.

So gute Referenzen Japan Resistor Mfg auch hatte, eine Qualifikation musste die Firma noch erwerben: ein Fell zu scheren. Wenn die Platinen fertig bestückt, an das Skelett geschraubt und die Motoren verkabelt sind, wird Paro das Fell angezogen. Dann verbringt eine Mitarbeiterin zwei Stunden damit, dem Tier mit Nagelschere und Kamm einen individuellen Haarschnitt zu verpassen.

Der helle, mit Gestellen an den Wänden gesäumte Raum, in dem das geschieht, ist auch der geheimnisvolle Ort, an den viele Paros regelmässig in die Ferien fahren. Einmal im Jahr erklärt man Frau Karasawa im Fuyo-en, dass ihr geliebter Tama nun für zwei Wochen verreisen müsse. Dann landet er auf dem Gestell rechts von der Eingangstür. Das Fell wird ihm über die Mikrophone gezogen und gewaschen, Sensoren und Motoren werden überprüft, die Elektronik getestet. Offiziell heisst der Ort der Wartung Paro-Klinik.

Herr Shimono, ein älterer Mitarbeiter, der wie alle hier die blaue Mütze und die Firmenuniform mit den Buchstaben JRM über der linken Brusttasche trägt, ist für die Paro-Klinik zuständig. Er merkt schon kurz nach dem Einschalten, ob eine Robbe aus einem liebevollen Heim kommt oder nicht. Man erkenne es am Verhalten und an der Stimme, sagt er, als sei es die natürlichste Sache der Welt, die Charaktere verschiedener Robbenroboter auseinanderzuhalten. Doch Shimono erliegt keiner Illusion, tatsächlich entwickelt jeder Paro seine eigene Persönlichkeit. Er verfügt über einen Langzeitspeicher, der die Summe seiner Erlebnisse als Zahlenwerte gewisser Grundemotionen abspeichert. Anstelle einer Psychoanalyse reicht bei ihm ein Blick in den Hauptspeicher.

Zurzeit liegen vier Paros im Regal der Paro-Klinik. Das Fell abgezogen, die Flossen entblösst, die Kabel zu den zwölf Schnurrhaaren abgetrennt. Es sieht aus, als ob hier ein Künstler kubistische Seehundplastiken in Serie produzierte. Die Liebe hat den Robotern zugesetzt. Die glatte Folie der Tastsensoren ist durch das ständige Streicheln der alten Hände faltig geworden.

Darf man so viel Liebe an eine Maschine verschwenden? «Wie gefühllos ist unser Umgang mit Demenzkranken geworden, wenn wir einen Emotionsroboter benötigen, um Patienten zum Sprechen zu bringen?» fragt der katholische Theologe und Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover, Jürgen Mannemann, der für den Einsatz von Hunden und Katzen plädiert, die aufgrund ihrer Einfühlsamkeit zu einer echten Kommunikation fähig seien. Das klingt vernünftig, bis man sich in der neueren Verhaltensforschung umschaut, wo Experiment um Experiment zeigt, dass das vermeintliche Mitgefühl der Haustiere und die wahrgenommene Kommunikation mit ihnen oft ausschliesslich auf der Einbildungskraft ihrer Besitzer beruhen. Der schuldige Hundeblick zum Beispiel hat nichts mit Schamgefühl zu tun, sondern ist die Reaktion des Hundes auf die unbewusste Körpersprache des Besitzers.

Man mag es seltsam finden, eine emotionale Beziehung zu einer Kreatur aufzubauen, in der ein 32-Bit-RISC-Prozessor steckt. Aber ist es so gesehen nicht auch seltsam, Gefühle für Wesen zu hegen, die von ein paar Milliarden Hirnzellen, etwas Dopamin und Serotonin dirigiert werden? Die Haltung zu Paro ist auch eine Frage der Weltanschauung. Wer glaubt, dass das Wesen von Mensch und Tier, so komplex und rätselhaft es auch sein mag, letztlich das Resultat der Gehirnchemie ist, dem gelingt es vielleicht eher, Paro als willkommene Erweiterung der grossen Familie aller Lebewesen zu sehen, deren Grenzen zunehmend verschwimmen. Hier wird die Robotik zur experimentellen Philosophie.

Murai Masumi ist die Frau vom Pflegedienst des Spitals Nanto, die der sterbenden Kimiko Fukushima Paro mit nach Hause gab. Sie hat 39 Jahre Erfahrung im Beruf und versteht die Robbe als Partner bei ihrer Arbeit. Nicht als Ersatz für den Kontakt zu den Menschen, sondern als Hilfe in schwierigen Situationen. Paro hatte offensichtlich die Gabe, nicht nur der sterbenden Frau, sondern auch ihrer Tochter, die ebenfalls am Bett sass, Trost zu spenden. Das ist es, was für Masumi zählt. Yoshio, wie die alte Frau den Roboter genannt hatte, tut übrigens inzwischen im zweiten Stock des Spitals Dienst. Er heisst gerade Mitori.

RETO U. SCHNEIDER ist stv. Redaktionsleiter des NZZ-Folios.

Das Lager des Kuschelroboters Paro beim Hersteller in Nanto City, Japan, ist fast leer. Die künstliche Robbe wurde bisher über 3000 mal in alle Welt verkauft.
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Eine Bewohnerin des Altersheims Fuyo-en in Yokohama, Japan, mit dem Paro-Roboter Chibi. Ihr Lieblingsroboter ist eigentlich Tama, aber der liegt gerade in den Armen einer anderen Frau.
In einem Versuch kommt Paro in Japan bei dementen Patienten zum Einsatz. Er erfreut sich grosser Beliebtheit, und seine Anwesenheit führt zu vermehrten sozialen Kontakten.
Die Theke des Altersheims Fuyo-en in Yokohama mit zwei Robotern, die dort im Einsatz sind. Das Heim wurde von der Präfektur Kanagawa als Prüfstand der Robotertechnik in der Altenpflege ausgewählt.
Sozialarbeiter und Betreuerinnen erlernen in einem Weiterbildungskurs den Umgang mit dem Kuschelroboter Paro.
Unter dem antibakteriellen Fell sitzt die Batterie von Paro. Eingeschaltet wird er zwischen den Flossen.
Plüschtiere für 30000 Franken: 6 der 12 Paros, die im Altersheim Fuyo-en im Einsatz sind.
Der Erfinder von Paro, Takanori Shibata (sitzend), entwickelt den Roboter ständig weiter. Auf Wunsch von Therapeuten soll Paro in Zukunft weniger weinerlich auf unfreundliche Behandlung reagieren. Viele Patienten haben ihre Feinmotorik nicht mehr unter Kontrolle.
So sieht der Roboter unter dem Kunstfell aus: 13 elektrostatische Tastsensoren, 7 Motoren, 3 Mikrophone, 2 Lichtsensoren, 1 Lautsprecher, 1 Temperaturfühler, 1 Lagesensor - gesteuert von zwei 32-Bit Risc-Prozessoren.
Über 10 Jahre Entwicklungsarbeit stecken in Paro.
Das Scheren des Fells am Ende der Herstellung dauert 2 Stunden.
Jeder Paro erhält einen individuellen Schnitt - was sich von Laien allerdings kaum feststellen lässt.
Zu den Garantieleistungen zählt, dass dem Roboter in der Paro-Klinik jedes Jahr das Kunstfell über die Mikrophone gezogen wird, um seine Innereien zu kontrollieren. Die vielen Streicheleinheiten können dem Roboter arg zusetzen.
Die Zukunft der Altenpflege? Eine Besucherin eines Tagesheims für Senioren in Nato City, Japan.
In Japan lässt sich Paro für Privatkunden auch in Läden kaufen. Kostenpunkt: um die 5000 Franken.

Das Lager des Kuschelroboters Paro beim Hersteller in Nanto City, Japan, ist fast leer. Die künstliche Robbe wurde bisher über 3000 mal in alle Welt verkauft.

Reto U. Schneider

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom Juni 2014 zum Thema "Wer hat's erfunden?". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.